Geleitwort



Sehr geehrte Leserinnen und Leser,

"Alle Menschen sind frei und gleich an Rechten und Pflichten geboren", lautet Artikel 1 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948. Danach zu handeln, in diesem Sinne demokratisch zu fühlen und zu denken, das ist uns nicht in die Wiege gelegt, das müssen wir erst und immer wieder neu lernen.

Viele von uns haben das Glück, Eltern, Lehrer und andere Mitmenschen als Vorbilder zu haben, die ihre Mitbürger ohne Ansehen der Person gleich behandeln. Sie betrachten zum Beispiel chronisch kranke und behinderte Mitmenschen als vollwertige Mitglieder unserer Gesellschaft, statt sie auszugrenzen und zu diskriminieren.

Um solche Ausgrenzung, Diskriminierung, Entrechtung bis hin zum Mord geht es in diesem Arbeitsheft.

Wir erfahren als Leser von Menschen, die wegen einer Krankheit oder Behinderung als "unwert" abgestempelt, von ihren Familien getrennt, zwangssterilisiert und schließlich ermordet wurden.

Wir lernen auch die Täter kennen, die in ihrer ideologischen Verblendung glaubten, sich über Andere stellen, ja sogar über das Lebensrecht anderer Menschen entscheiden zu dürfen.

Ich habe vor drei Jahren bei einer Gedenkstunde in der Gedenkstätte Pirna-Sonnenstein viele engagierte Menschen kennengelernt, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, die Opfer dem Vergessen zu entreißen und die Täter zu benennen. Ihnen ist es wichtig, die Erinnerung wach zu halten, um den Opfern ihre Würde wiederzugeben.

Aber es geht ihnen dabei - und das soll dieses Heft aufzeigen - um noch mehr: dass wir aus diesem schrecklichen, zutiefst beschämenden Abschnitt unserer sächsischen und deutschen Geschichte lernen. Dass wir lernen, demokratisch zu denken, zu fühlen und zu handeln. Dass wir lernen, jeden unserer Mitmenschen als Gleichen zu achten. Gleichheit und Solidarität sind die Grundlage jeder demokratischen Gesellschaft. Wo eine Gruppierung, gar der Staat anfängt, zu selektieren, ist der Weg von der Diskriminierung zur Tötung Einzelner bis zum millionenfachen Mord im industriellen Maßstab nicht weit.

Dies kann man in der Auseinandersetzung mit den Materialien dieses Heftes lernen. Ich danke dem Herausgeber und seinen Mitstreitern, die diese Materialsammlung erstellt haben und damit einen Beitrag zur Demokratieerziehung in Sachsen leisten. Und ich wünsche mir, dass Sie, liebe Leserin, lieber Leser, bei der Lektüre nicht nur Scham und Entsetzen spüren, sondern auch in Ihren demokratischen Überzeugungen, in Ihrem demokratischen Denken und Handeln gestärkt werden.

Stansilaw Tillich
Ministerpräsident Freistaat Sachsen